Ein Jahr nach der Unterzeichnung eines Friedensvertrags zwischen der Farc-Guerilla und der Regierung Kolumbiens steht vieles nur auf dem Papier. Die Regierung verschleppt die Umsetzung des Vereinbarten, entwaffnete Guerilleros sind frustriert. Der Konflikt im Hinterland eskaliert. Besuch in einer unruhigen Provinz.
Von Toni Keppeler (Text) und Andrés Vanegas (Fotos)
Heiler Mosquera blutet aus. Der Ort, benannt nach einem im Krieg gefallenen Comandante der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc), liegt ganz im Süden des Landes, in der Provinz Putumayo. Ein paar Kilometer weiter beginnt der Regenwald Amazoniens. 530 Kämpferinnen und Kämpfer der ehemaligen Guerilla haben sich dort Mitte Dezember vergangenen Jahres versammelt. Bis August haben sie ihre Waffen an Vertreter der Vereinten Nationen übergeben. Jetzt langweilen sie sich. Sie sind frustriert. Von den vielen Programmen, die im vor einem Jahr unterzeichneten Friedensvertrag von der Regierung versprochen worden waren und mit denen sie innerhalb eines Jahres den Sprung ins zivile Leben schaffen sollten, ist nur der Untericht angelaufen, der sie zu Schulabschlüssen führen soll. Keine der vereinbarten Berufsausbildungen, kein landwirtschaftliches oder handwerkliches Projekt, mit dem sie Geld verdienen könnten.
Von den einst 530 Guerilleros sind nur noch 350 im Übergangslager. Die anderen sind gegangen. Ein paar haben sich Arbeit gesucht, meist als Pflücker auf einem der vielen illegalen Koka-Felder der Gegend – fast die einzige Arbeit, die man hier finden kann. Etliche aber haben sich wieder Waffen besorgt und sind zurück in den Dschungel. „Wir wissen nicht, wie viele es sind“, sagt José Tapiero, der früher unter dem Decknamen Rubén Polanco Comandante war und heute einer der Sprecher in Heiler Mosquera ist. „Wir wissen auch nicht, ob sie politische Motive haben oder ob sie einfach nur Räuberbanden gegründet haben.“ Tapiero ist schwarzhaarig, kräftig, ein Typ wie Charles Bronson. Zur groben Arbeitshose trägt er ein dunkelblaues T-Shirt mit großem Hugo-Boss-Logo. Uniformen sieht man kaum mehr im Lager. Tapiero weiß, dass die Abtrünnigen gefährlich sind: „Sie haben eine militärische Ausbildung.“
Der staatliche Ombudsmann Carlos Alfonso Negret geht von 800 solcher Farc-Dissidenten aus, die International Crisis Group, eine Nichtregierungsorganisation, die Konflikte in aller Welt beobachtet, von bis zu tausend. Ein ehemals hochrangiger Farc-Kämpfer, der anonym bleiben will, schätzt ihre Zahl gar auf bis zu 3.000. Allein in Putumayo seien rund 800 solcher Wiederbewaffneter unterwegs. Der Uno-Hochkommisar für Menschenrechte Andrew Gilmour warnte Ende Oktober: Wenn die Demobilisierten keine Möglichkeit hätten, auf legalem Weg Geld zu verdienen, würden sie zwangsläufig kriminell. „Wenn sie keinen Platz in der Gesellschaft finden, kann der Frieden nicht halten.“ Es gab schon wieder einzelne Überfälle auf Polizeiposten und Militärpatrouillen.
Der Weg nach Heiler Mosquera ist beschwerlich. Nach Puerto Asís, einer schmutzigen und umtriebigen Kleinstadt, gibt es nur noch staubige Pisten. Über den Río Putumayo führt keine Brücke, nur eine alte Fähre, die um vier Uhr am Nachmittag ihren Dienst einstellt. Danach sind es noch knapp zwei Stunden durch eine hügelige Landschaft, vorbei an Viehweiden und durch Wälder. Kaum je ein Haus. Ein ideales Gelände für eine Guerilla. Jahrzehntelang hatte die Farc das Gebiet jenseits des Río Putumayo unter ihrer Kontrolle. Die dem Übergangslager nächst gelegene Siedlung La Carmelita ist auf keiner Karte verzeichnet, offiziell existiert sie gar nicht. Sie ist – gewissermaßen – ein Gründung der Farc: Zunächst waren da nur ein paar kleine Höfe. Die Guerilla deckte sich dort regelmäßig mit Vorräten ein, und weil die Aufständischen gut bezahlten, kamen immer mehr Händler. Heute ist La Carmelita ein veritables Dorf.
Drei Kilometer dahinter liegt Heiler Mosquera. Am Eingang des Lagers rahmt eine Reihe weißer Friedensfahnen die Flagge Kolumbiens ein, daneben das rote Banner der Farc, mit Hammer und Sichel in Gelb in der linken oberen Ecke. Es ist der einzige Hinweis auf die Farc als Guerilla. Im Lager selbst gibt es nur noch die stilisierte rote Rosenblüte, das Emblem der neuen Partei. Sie nennt sich – um die Abkürzung zu behalten – etwas umständlich „Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común“, „Alternative revolutionäre Kraft des Gemeinwohls“.
Das Übergangslager wirkt eher wie ein kleiner Weiler: bunt gestrichene Häuser, eines am anderen und aufgeteilt in Straßenzüge, die nach den früheren Guerillafronten ihrer Bewohner benannt sind: die 32. Front, die 48., die 49.; dazu das Kommando der Generalkoordination. Hier wohnen die ehemaligen Comandantes und ihre Untergebenen. Viele Demobilisierte haben ihre Familien geholt. Zwanzig Kinder sind inzwischen in Heiler Mosquera zur Welt gekommen. Am Eingang des Lagers gibt es einen kleinen Spielplatz, zwischen den staubigen Straßen viel Freifläche, einen Bolzplatz, überdachte Versammlungsstätten, einen Billard-Salon. Gegessen wird gemeinsam, auf den Terrassen von vier kommunalen Küchen. Dazu gibt es einen Kiosk mit den nötigstens Lebens- und Waschmitteln und eine Bäckerei. Beide werden gemeinschaftlich bewirtschaftet.
„Als wir Mitte Dezember vergangenen Jahres hier ankamen, war das noch eine Viehweide“, sagt Tapiero. Die Regierung stellte das Baumaterial zur Verfügung: Latten, Gipsplatten für die Wände, dünnes Wellblech für die Dächer. „Meine Leute haben gearbeitet von sechs Uhr früh bis zehn in der Nacht.“ Heute sehen die bunt gestrichenen Häuser fast fröhlich aus. Tagsüber aber sind sie heiß wie ein Backofen, in der Nacht kalt wie ein Kühlschrank. Ob die Wände aus Gipsplatten die nächste tropische Regenzeit überstehen, ist noch nicht heraus. Strom gibt es erst seit Ende Oktober, das Wasser bringt noch immer ein Tankwagen. Die medizinische Versorgung sei eine Katastrophe, sagt Tapiero. Nur ab und zu komme ein Arzt vorbei, für die Pflichtimpfungen der Kinder. Minenopfer bekommen keinen Ersatz für ihre längst zerschlissenen Arm- oder Beinprothesen. „Medikamente, die eigentlich gekühlt werden sollten, lagern in einer heißen Hütte aus Wellblech. Da waren unsere Feldlazarette besser ausgestattet.“
Die meisten der Demobilisierten sind noch nicht offiziell registriert. Sie haben von den staatlichen Behörden nur eine Nummer zugeteilt bekommen, aber noch keinen Personalausweis erhalten. Ohne diesen Ausweis können sie nicht einmal ihre neu geborenen Kinder beim nächsten Standesamt melden. „Man kann keine Nummer als Vater oder Mutter eintragen“, sagt Tapiero. Ohne offizielle Papiere können sie auch kein Konto eröffnen, und ohne Konto bekommen sie nicht die im Friedensvertrag vereinbarte zweijährige Übergangszahlung von umgerechnet rund 200 Euro im Monat, 80 Prozent des staatlichen Mindestlohns. Die Lebensmittellieferungen des Staats und die Pachtzahlungen für das Gelände von Heiler Mosquera laufen Ende des Jahres aus. Was danach kommt, ist unklar.
„Die Programme zur Integration ins zivile Leben sind das einzige, das wir im Friedensvertrag für uns selbst erreicht haben“, sagt Manuela Marín im fernen Bogotá. Sie sitzt in einem Büro der neu gegründeten Farc-Partei im vierten Stock eines gesichtslosen Hochhauses im Stadtzentrum und ist in der Parteiführung zuständig für die Beziehungen zur Zivilgesellschaft. Im Farc-Jargon heißt ihre Aufgabe noch immer „Kontakt zu den organisierten Massen“. Sie ist klein und durchtrainiert; man sieht ihr an, dass sie über dreißig Jahre ihres Lebens mit der Waffe und schwerem Gepäck durch den Dschungel marschiert ist. Ihre dunklen Augen sprühen, die langen schwarzen Haare hat sie zurückgesteckt. Sie trägt große bunte Ohrringe. Dass sich die Regierung nicht um ihre friedensvertraglichen Verpflichtungen gegenüber der Farc schert, hält sie für eine Strategie. Besserung sei nicht zu erwarten: Im soeben verabschiedeten Staatshaushalt für das Jahr 2018 ist für Reintegrationsprogramme kein einziger Peso eingestellt. „Sie wollen damit unsere Organisation schwächen“, sagt Marín. „Sie wollen, dass die Leute aus den Übergangslagern gehen und wir den Kontakt zu ihnen verlieren.“
Auch dass sich Demobilisierte wieder bewaffnen, hält sie für „eine Konsequenz der Obstruktionspolitik der Regierung“. Die Rückkehr ins zivile Leben sei auch mit Hilfsprogrammen schwer genug, viele in der Farc kennen seit Jahrzehnten nichts anderes als den Krieg. Wenn sich dann nach einem Jahr noch immer keine Perspektive abzeichne, dann kehrten eben manche „zurück zur alten Lebensform“. Mit dem Risiko dieses Lebens sind sie vertraut, und das Risiko, entwaffnet zu sterben, ist auch nicht gerade gering. Am Tag nach dem Besuch in Heiler Mosquera wurde ein ehemaliger Kämpfer, der übers Wochenende sein Heimatdorf besucht hatte, vor den Augen seiner Familie von Maskierten erschossen. „Mit ihm sind es schon 33 Kameraden, die den Frieden mit ihrem Leben bezahlen mussten“, sagt Marín. Alle sind sie bei Verwandtenbesuchen umgebracht worden. In die Nähe des Übergangslagers trauen sich die rechten Mörderbanden nicht. Zu den toten ehemaligen Guerilleros kommen allein in diesem Jahr über hundert Menschenrechtler, Bauern- und Indígena-Führer, die von Paramilitärs ermordet wurden.
Dass diese ultrarechten Verbände bislang nicht massiv in die von der Guerilla freigegebenen Gebiete einmarschiert sind, liegt wohl hauptsächlich daran, dass sich dort jetzt die Dissidenten der Farc verstecken. Aber auch gezielte Morde können sich zu erschreckenden Zahlen summieren. Als sich in den 1980er-Jahren ein Teil der Farc entwaffnet und die Linkspartei „Patriotische Union“ gegründet hatte, wurden im Lauf der kommenden Jahre alle Mitglieder von rechten Todesschwadronen ermordet; über 3.000 Männer und Frauen. „Wir wussten, welches Risiko wir eingehen“, sagt Marín. „Aber nach 53 Jahren hatte sich der Krieg erschöpft, keine Seite konnte die andere bezwingen. Es gibt nur noch eine politische Lösung des Konflikts.“
Erika Suárez ist mit dieser politischen Lösung bislang ganz zufrieden. Frieden, das bedeutet für sie: „Die ständige Spannung ist weg und es gibt keine Befehle mehr.“ Eigentlich heißt sie María Romero, will aber ihren Guerilla-Namen behalten. „Ich nenne mich schon viel länger Erika, und ich habe mir diesen Namen selbst ausgesucht“, sagt sie. Sie ist 29 Jahre alt, 18 Jahre davon war sie bei der Guerilla. „Damals gingen viele Kinder zur Farc“, sagt sie. Sie ist auf einem einsamen Hof aufgewachsen, ihr Vater hat sie missbraucht. Mit elf Jahren ist sie von zu Hause geflohen. Sicher sein konnte sie nur bei den Rebellen. „Wer dort eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt hat, der wurde erschossen“, sagt sie. Ihre leibliche Familie interessiere sie heute nicht mehr, sagt sie. „Meine Familie ist die Farc.“
Die kleine kompakte Frau mit den hellen Strähnen im dunklen Haar arbeitet als Verkäuferin im kommunalen Kiosk. Sie hat zwei Töchter, vier und sechs Jahre alt. Vom Vater, ebenfalls ein ehemaliger Guerillero, hat sie sich getrennt. „Aber wir bleiben Freunde.“ Sie will, dass alle im Übergangslager bleiben und dass daraus im Lauf der Zeit einfach ein weiteres Dorf entsteht. Sie war schon einmal für ein paar Tage in der nächsten Stadt. „Ich könnte dort nicht leben“, sagt sie. „Es ist laut dort, jeder denkt nur an sich und alles geht nur ums Geld.“ Im Lager aber helfe man sich gegenseitig, „es gibt noch immer die alte Kameradschaft“.
Bei der Farc wurde Suárez zur Krankenschwester und Zahnärztin ausgebildet, ohne Studium und Papiere, einfach so, in der Praxis. Alle sechs Monate mussten die Kämpfer zu ihr, zur gründlichen Zahnreinigung und zur Revision des Gebisses. Sie kann Löcher bohren, Füllungen einsetzen und Kronen basteln. „Ich habe alles getan, um einen Zahn zu retten, und ihn nur gezogen, wenn gar nichts mehr ging.“ Bei Gefechten war sie gleich hinter dem Kommandoposten und hat dort den Verwundeten erste Hilfe geleistet. „Meine Ausbildung nützt mir heute nur noch, wenn meine Kinder krank sind“, sagt sie. „Ich brauche keinen Arzt.“ Natürlich sei es frustrierend, nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten zu können. Sie hat keine Chance, dass ihre Ausbildung bei der Guerilla staatlich anerkannt wird. Sie kann deshalb verstehen, dass viele, die sich nutzlos fühlen im Lager, gegangen sind. „Viele arbeiten heute als Raspachines.“ So nennt man in Kolumbien die Männer und Frauen, die Kokablätter von den Zweigen der Büsche reißen.
Die Plantagen liegen abseits der Wege, versteckt am Rand des Dschungels. Man wandert über Weiden, watet durch Bäche, schlittert über schlammige rote Erde, folgt einem schmalen Pfad durchs Gestrüpp. Nach einer Stunde Marsch tut sich eine Lichtung auf. Die Kokabüsche sind vielleicht eineinhalb Meter hoch, ihre frischen hellgrünen Blätter glitzern in der Sonne. Hinter der Pflanzung steht das ein Haus aus Holz, das wegen der tropischen Wolkenbrüche auf Stelzen gebaut ist. Auf dem Wellblechdach eine Satellitenschüssel für den Fernsehapparat und Solarzellen für ein paar Glühbirnen. Keine Strom- und keine Wasserleitung führen in diese Wildnis.
Der Mann, der hier wohnt, trägt den wohl häufigsten Namen in Kolumbien: José. Sein Nachname soll verschwiegen werden, sein Gesicht nicht auf Fotos erscheinen. Denn José, seine Frau und seine drei Kinder leben außerhalb des Gesetzes. Der Mann, der wegen seiner mächtigen Statur und den Gesichtszügen eher an einen russischen Boxer als an einen kolumbianischen Bauern denken lässt, baut nicht nur Koka-Sträucher an. Er verarbeitet die Blätter im eigenen Labor zu Kokain. Eineinhalb Hektar hat er mit dem verbotenen Busch bepflanzt. Sein Ertrag: alle zwei Monat „dos kilitos“, zwei Kilöchen von dem weißen Pulver. Das ist viel für eineinhalb Hektar. „Ich habe eben gute Pflanzen“, sagt er. „Ich kreuze die besten miteinander, diejenigen mit dem höchsten Kokaingehalt in den Blättern.“ So hole er aus seinen Feldern mehr Kokain heraus als andere aus der doppelten Fläche.
Sein Labor ist ein windschiefer Schuppen, keine zwanzig Meter hinter seinem Haus. Auf dem Boden liegt die frische Kokablatt-Ernte, sein ältester Sohn, vielleicht fünf Jahre alt, spielt zwischen den Fässern mit den Chemikalien. Der Prozess, der zum Kokain führt, ist denkbar einfach: Die Blätter werden mit einem Rasenmäher zerkleinert und dann in ein Fass voller Benzin geworfen. Dort weichen sie ein paar Tage ein. Die Pampe wird dann ausgepresst, die flüssige Benzin-Koka-Mischung kommt in ein weiteres Fass, das mit Wasser und Säure für Autobatterien aufgefüllt wird. Auf drei Teile Wasser kommt ein Teil Säure. Das neue Gemisch wird regelmäßig umgerührt, nach zwei Tagen lässt man es ruhen. Säure und Wasser trennen sich dann vom Benzin. Das Säure-Wasser-Gemisch bindet das Kokain, das Benzin ist leichter und schwimmt oben. Es wird abgeschöpft. Schon jetzt kann man schmecken, ob viel Kokain in den sauren Wasser ist. Man taucht einen Finger in die Brühe und leckt ihn ab. Je bitterer die Flüssigkeit schmeckt und je schneller sie die Zunge einschläfert, desto mehr Kokain. Filtert man sie durch ein Tuch, bleibt ein grobes weißes Pulver zurück.
„Koka ist eine Pflanze wie jede andere“, sagt José. „Sie wird von der Regierung nur bekämpft, weil man damit mehr Geld verdienen kann als mit anderen Pflanzen.“ Er selbst freilich wird nicht reich davon. 1,7 Millionen Pesos bezahlt ihm der Händler im nächsten Dorf für ein Kilo. José beschäftigt vier Raspachines. Zieht er ihren Lohn und die Investitionen in die Chemie von seinem Erlös ab, bleiben ihm etwa die Hälfte: 850.000 Pesos, knapp 240 Euro pro Kilo. Das ist, bei zwölf Kilo Kokain im Jahr, sein Monatsverdienst. Der größte Teil der in Kolumbien produzierten gut 900 Tonnen im Jahr werden in solchen improvisierten Laboren hergestellt. Den großen Reibach machen die Händler.
„Natürlich ist es nicht schön, wenn man sich dauernd verstecken muss“, sagt José. Er habe es schon einmal mit Ananas versucht, „der Boden ist ideal dafür“. Aber er musste die Ernte mit dem Pferd auf den Markt bringen, „und wenn dann eine Frucht beschädigt ist, bezahlen sie mir nur noch die Hälfte. Damit komme ich nicht über die Runden.“ Vor den Kokavernichtern der Polizei hat er keine Angst. „Sie haben meine Pflanzung nur einmal aus der Luft besprüht“, erzählt er, vor ein paar Jahren, mit Glyphosat. „Dann geht man hinaus und schlägt die Büsche unten ab und in einem halben Jahr stehen sie wieder da.“
Es kann bald schlimmer kommen. Seit ein paar Wochen schickt die Armee Einheiten ins Hinterland, die Kokapflanzen von Hand ausreißen. In der Nachbarprovinz Nariño kam es dabei Ende Oktober zu Toten. Kokabauern stellten sich der Armee in den Weg, sechs von ihnen wurden erschossen. Als eine Delegation der Vereinten Nationen den Fall untersuchen wollte, wurde auch sie von der Armee beschossen. Im Friedensvertrag ist vereinbart, dass die Kokaplantagen von den Bauern nur dann freiwillig vernichtet werden sollen, wenn ihnen die Regierung Übergangshilfen und eine Ausbildung zum Anbau von Ersatzpflanzen anbietet. 75.000 der geschätzten 170.000 Koka-Produzenten haben sich für dieses Programm bereits gemeldet. Ausbezahlt wurde noch nichts und auch die nötigen Wege für den Transport der ins Auge gefassten Ersatzpflanzen – vor allem Kaffee und Kakao – wurden noch nicht gebaut.
„Im Friedensvertrag wird Koka zum ersten Mal als soziales und nicht als kriminelles Problem definiert“, sagt Manuela Marín in Bogotá. „Das war einer unserer größten Erfolge bei den Verhandlungen.“ Eben deshalb habe man den freiwilligen Ersatz dieser Pflanze mit staatlicher Unterstützung vereinbart, als Teil einer umfassenden Reform für das ländliche Kolumbien. „Das geht von Urkunden über den Landbesitz über die Infrastruktur an Straßen, Schulen und Krankenhäusern bis hin zu Krediten für die Bauern.“ Verwirklicht wurde davon bislang nichts, und natürlich sei der Weg des gewaltsamen Vernichtens der Plantagen viel billiger. „Als Partei können wir uns nur mit der Regierung darüber streiten“, sagt Marín. „Aber alleine durchsetzen können wir uns nicht. Wir brauchen dazu die organisierten Massen.“
Die Koka-Bauern sind vorbereitet. In der Provinz Putumayo, wo rund 50.000 Hektar mit der verbotenen Pflanze bestellt sind, pflanzen überwiegend Indígenas der dort siedelnden fünfzehn verschiedenen Ethnien Koka an. Seit Anfang November sind sie zusammen mit Indígenas aus den anderen Landesteilen auf dem Kriegspfad. In langen Debatten, zuerst in ihren Dörfern und dann in koordinierenden Gremien, haben sie eine sogenannte „Minga de Resistencia“ beschlossen. „Minga“ ist ein altes Wort für gegenseitige Hilfe, etwa, wenn sich Nachbarn gegenseitig helfen, ein Feld zu säubern oder ein Haus zu bauen. Eine „Minga de Resistencia“ ist gegenseitige Hilfe im Widerstand.
„Wir haben fast ein Jahr für die Vorbereitung gebraucht“, sagt Aureliano Garreta, ein Indígena-Führer aus Putumayo. In oft mehrere Tage dauernden Märschen haben sich die Indígenas seiner Provinz auf den Weg in die Nachbarprovinz Cauca gemacht, um sich dort mit anderen in dem Weiler Santa Marta zu treffen. Mindestens 2.000 werden im dort eingerichteten Lager erwartet. Sie gehen auf der Straße, in langen Reihen, misstrauisch beäugt von Polizei und Armee. Als einzige Waffe tragen sie einen meist mit Bändern geschmückten Stock, der gleichzeitig Zeichen ihrer Autorität ist. „Wir werden uns zunächst sammeln, um der Regierung zu zeigen: Wir sind da und wir sind entschlossen“, sagt Garreta. „Wenn die Regierung dann nicht bereit ist, ernsthaft mit uns zu verhandeln, werden wir die Straßen blockieren, eine nach der anderen, im ganzen Land.“ Das könne zwei Wochen dauern, einen Monat oder noch länger. Die letzte große „Minga de Resistencia“ im Jahr 1994 dauerte zwei Monate. Damals ging in Putumayo das Benzin aus, der Strom wurde abgestellt, Lebensmittel mussten eingeflogen werden und wurden sündhaft teuer.
Die Indígenas wollen nicht nur, dass die gewaltsame Vernichtung ihrer Koka-Pflanzungen aufhört, sie wollen auch Land. „Es gibt 224 Indígena-Gemeinden in Putumayo“, sagt Garreta. „Aber nur 60 haben ein eigenes von der Regierung anerkanntes Territorium, auf dem der Boden Gemeineigentum ist und unsere Sitten, Gebräuche und Gesetze gelten.“ Land aber wollen alle haben: Die Indígenas, die anderen Bauern, die Farc, die Großgrundbesitzer, die Öl- und die Agrarkonzerne. Und dieser Konflikt um den Boden wird blutig ausgefochten. Dutzende von Indígena-Führern wurden schon von Paramilitärs im Dienst von Konzernen und Großgrundbesitzern ermordet.
Der einzige Schutz der Kokabauern – so absurd das auch erscheinen mag – sind oft die wiederbewaffneten Dissidenten der Farc. Anfang November hat Präsident Juan Manuel Santos seine Luftwaffe angewiesen, diese neuen Freischärler zu bombardieren. Es herrscht wieder Krieg im Hinterland von Kolumbien. Nur nennt es der Präsident heute Frieden.
woz, 30.11.2017